Esperanto und Pazifismus vor dem Ersten Weltkrieg

Forschung

05.11.2016
Geschichte der ÖNB, Plansprachen
Titelblatt: Zamenhof, Ludwik: Internationale Sprache. Vorrede und vollständiges Lehrbuch.

Autor: Bernhard Tuider

In der Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek werden mehr als 500 Plansprachen dokumentiert. Sie sind seit dem Mittelalter entstanden und nicht nur in linguistischer Hinsicht beachtlich, unter anderem als eine wichtige Facette menschlicher Kreativität, sondern ebenso historisch relevant, insofern als ihre SprecherInnen innerhalb konkreter soziokultureller Lebenswelten agierten. Die Quellen in der Sammlung für Plansprachen beinhalten folglich nicht nur Informationen über bewusst geschaffene Sprachen, ihre Grammatik und Literatur, sondern sie bieten auch einen sozial- und kulturhistorischen Zugang zu den Personen und Kollektiven, die sich mit diesen Sprachen auseinandersetzten.

Diese vielfältige Bedeutung von Plansprachen manifestiert sich deutlich in den Beziehungen zwischen Friedens- und Esperantobewegung, die insbesondere für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als „Parallelbewegungen“ bezeichnet werden können. Auffallende Verbindungen lassen sich aus einer zeitlichen, inhaltlichen und biografischen Perspektive skizzieren.

 

Zeitliche Affinitäten

Sowohl die Friedensbewegung als auch die Esperantobewegung konstituierten sich am Ende des 19. Jahrhunderts. Während in den 1870er- und 1880er-Jahren zahlreiche nationale Friedensgesellschaften entstanden,[1] die eine Voraussetzung für eine internationale Zusammenarbeit bildeten, erfolgten ab dem Ende der 1870er-Jahre Versuche, die nationalen Vereinigungen international zu koordinieren. Bei einem Treffen von Delegierten nationaler Friedensgesellschaften 1888 in Paris beschlossen die Anwesenden, im folgenden Jahr eine Konferenz der nationalen pazifistischen Organisationen abzuhalten. Dieser erste Weltfriedenskongress tagte vom 23. bis 27. Juni 1889 im Palais du Trocadéro in Paris, daran anschließend fand von 29. bis 30. Juni 1889 die erste Konferenz der Interparlamentarischen Union statt. Dem Wunsch der nationalen Friedensgesellschaften nach kontinuierlicher internationaler Koordination entsprach 1891 eine Resolution des 3. Weltfriedenskongresses in Rom, durch die 1892 das Internationale Friedensbüro in Bern als zentrale internationale Koordinationsstelle für die nationalen Verbände gegründet wurde. Mit der Etablierung der Weltfriedenskongresse und des Internationalen Friedensbüros gewann der internationale Pazifismus in den Jahren zwischen 1888 und 1892 jene institutionelle Form und organisatorische Kontinuität, die bis 1914 aufrecht blieb (vgl. Scheer 1983: 21ff.; Riesenberger 1985: 41f.; Holl 1988: 42f; Mauermann 1990: 21).

 

Dass gerade während jener Zeit, ab den 1870er-Jahren, in der die Zahl der Friedensgesellschaften rasch zunahm, auch die Zahl der Plansprachen markant anstieg, ist auf den gleichen Impetus zurückzuführen: sowohl die Gründer von Friedensvereinigungen als auch die Initiatoren von „Welthilfssprachen“ – dieser Begriff ist eine Bezeichnung für jene Plansprachen, die der Erleichterung der internationalen Kommunikation dienen sollen – wollten primär die internationale Verständigung fördern und verfolgten dieses Ziel im Kontext mit pazifistischen, religiösen und wirtschaftsliberalen Implikationen (vgl. Okrent 2009: 298ff.).

Die ersten Welthilfssprachen – wie die Communicationssprache (1839) von Joseph Schipfer oder das Universalglot (1868) von Jean Pirro – erzeugten noch relativ wenig Aufmerksamkeit, erst um 1880 schafften Volapük (1879) von Johann Martin Schleyer und danach Esperanto (1887) von Ludwik Lazar Zamenhof den Schritt von der Theorie in die Praxis durch die Ausbildung von Sprachgemeinschaften. Während sich die Literaturproduktion in Esperanto in den 1890er-Jahren intensivierte und in dieser Phase vor allem Lehrbücher, Grammatiken und Übersetzungen von bedeutenden Werken der Weltliteratur publiziert wurden, sind die Qualitäten des Esperanto auch zunehmend von PazifistInnen wahrgenommen worden. Infolgedessen diskutierten die TeilnehmerInnen der Weltfriedenskongresse in Paris (1889 und 1900), in Luzern (1905) und in München (1907) das Thema einer Welthilfssprache, vor allem in Bezug auf Esperanto, und verabschiedeten diesbezüglich mehrere Resolutionen (vgl. Fried 1907a: 230).

Ludwik L. Zamenhof: Internacia lingvo. Warschau 1887.

 

Inhaltliche Affinitäten

Die inhaltlichen Parallelen zwischen Friedensbewegung und Esperantobewegung manifestieren sich besonders deutlich an den von deren ProtagonistInnen publizierten Schriften sowie an den Weltfriedenskongressen bzw. Esperanto-Weltkongressen, die seit 1889 bzw. 1905 jährlich stattfanden.

In mehreren pazifistischen Zeitschriften erschienen vor dem Ersten Weltkrieg regelmäßig Esperanto-Sprachkurse sowie Artikel in bzw. über Esperanto. Zu diesen Fachzeitschriften gehörten u. a. die Publikationsorgane der London Peace Society – The Herald of Peace and International Arbitration – und der International Arbitration and Peace Association – Concord (vgl. O. A. 1908: 176).

Während der Esperanto-Weltkongresse organisierten PazifistInnen separate pazifistische Fachsitzungen und ebenso veranstalteten Esperanto-SprecherInnen bei den Weltfriedenskongressen eigene Versammlungen. TeilnehmerInnen dieser Zusammenkünfte waren vor allem Mitglieder der Internacia Societo Esperantista por la Paco, einer Esperanto-Friedensgesellschaft, die Gaston Moch 1905 gegründet hatte. Obgleich die Internacia Societo Esperantista por la Paco aufgrund der zu geringen finanziellen Mittel nur wenige Jahre, bis 1909, existierte, fanden sowohl bei den Esperanto-Weltkongressen in Boulogne-sur-Mer (1905), Genf (1906), Cambridge (1907) und Dresden (1908) als auch bei den Weltfriedenskongressen in Luzern (1905), Mailand (1906), München (1907) und London (1908) Generalversammlungen statt.

 

Gaston Moch: „Pacifisto“. Internacia Societo Esperantista por la Paco. Protokolo. Paris 1905.

 

Gaston Moch: Pri malarmo. Ĥimeroj kaj realaĵoj. Paris 1907.

 

Ziel der Esperanto-Friedensgesellschaft war es vor allem, pazifistische Ideen zu propagieren, um künftige zwischenstaatliche Konflikte nicht durch Kriege sondern mittels internationaler Vereinbarungen und Schiedsgerichte zu lösen. Die Gesellschaft bemühte sich ebenso, die Zusammenarbeit zwischen pazifistischen Interessensgemeinschaften zu vereinfachen und zu fördern, indem sie die internationalen Friedensgesellschaften über Kenntnisse und den praktischen Nutzen der Sprache Esperanto informierte (vgl. O. A. 1905: 21). Die Internacia Societo Esperantista por la Paco vereinte somit Ziele der Friedensbewegung mit Anliegen der Esperantobewegung, sah sich selbst aber explizit als Friedensgesellschaft, wie Gaston Moch (1905: 25) in einem Kommentar zu den offiziellen Statuten notierte: „Die Esperanto-Friedensgesellschaft hat als wesentliches Ziel nicht Esperanto zu propagieren, sondern die pazifistische Idee.“[2] Moch ging sogar so weit, Esperanto und Pazifismus voneinander zu sondern – trotz der offensichtlichen Verbundenheit und Übereinstimmungen beider Bewegungen innerhalb der Internacia Societo Esperantista por la Paco. Diese bewusste Differenzierung argumentierte Moch damit, dass es PazifistInnen gibt, die nicht Esperanto sprechen, und andererseits Esperanto auch anti-pazifistisch eingesetzt werden könne, als Mittel, um Kriege vorzubereiten und zu fördern. Der grundlegende Gedanke, weshalb Moch – und auch andere PazifistInnen – sich lange Zeit bemühten, die Bewegungen nicht explizit miteinander zu verbinden und zu vereinen, war aber ein pragmatischer: beide Bewegungen waren vor dem Ersten Weltkrieg den stereotypen Diffamierungen von nationalistischen und militaristischen Vereinigungen ausgesetzt – vor allem seitens des Alldeutschen Verbandes – und wurden in der Öffentlichkeit zumeist als Utopie bezeichnet und wahrgenommen (vgl. Moch 1905: 26f.). Moch (1905: 26) notierte in diesem Kontext:

 

„Andererseits darf man nicht vergessen, dass Esperantisten und Pazifisten als Utopisten angesehen werden von jenen Personen, welche sie noch nicht zu ihren Ideen konvertiert haben. Man würde also die Aufgabe nur erschweren, wenn man der Öffentlichkeit eine doppelte ‚Utopieʻ präsentieren wollte.“[3]

 

Trotz der nur vier Jahre andauernden Arbeit der Internacia Societo Esperantista por la Paco konnten mehrere Projekte realisiert werden. So publizierte die Gesellschaft von Juli 1905 bis Dezember 1908 insgesamt 42 Ausgaben der Zeitschrift Espero Pacifista. Ein weiteres publizistisches Mittel war die Bücherreihe Libraro Pacifisma – eine Buchreihe, in der Texte von prominenten PazifistInnen in Esperanto-Übersetzungen erschienen.[4]

 

Estonta milito laŭ la instruoj de Johano de Bloch. Paris 1907.

 

Personelle Affinitäten

Nachdem die Mitgliederzahl der Internacia Societo Esperantista por la Paco im Jahr 1905 rasch angestiegen war und ihr per 31. Dezember 1905 295 Personen angehört hatten, stagnierte die Zahl in den darauffolgenden Jahren auf diesem Niveau. Zu den Mitgliedern gehörten zahlreiche prominente PazifistInnen, im Jahre 1907 u. a. auch acht Mitglieder des Rates des Internationalen Friedensbüros: Henri Marie Lafontaine, Émile Arnaud, Gaston Moch, Felix Stone Moscheles, Samuel Baart de la Faille, Alfred Hermann Fried, Charles Richet, Nils August Nilsson und Edvard Wavrinsky (vgl. Moch 1907: 256). Zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Esperantobewegung, die sich innerhalb der Internacia Societo Esperantista por la Paco engagierten, gehörten Hector Hodler, der Gründer des Esperanto-Weltbundes und Sohn des Malers Ferdinand Hodler, sowie Carlo Bourlet, Théophile Cart, Antoni Grabowski, Marie Hankel, Edmond Privat und Henri Valienne (vgl. Moch 1906: 45-53).

 

Literaturverzeichnis

Cooper, Sandi E. (1991): Patriotic Pacifism. Waging war on war in Europe, 1815-1914, New York: Oxford University Press.

Dunant, Henri (1906): Rememoro pri Solferino(= Libraro pacifisma 2), Paris: Societo „Pacifisto“.

Ducommun, Élie (1906): La fundamentoj de l’ pacifismo (= Libraro pacifisma 3), Paris: Societo „Pacifisto“.

Fried, Alfred Hermann (1907a): Die hauptsächlichen Beschlüsse des XVI. Weltfriedenskongresses zu München, in: Die Friedens-Warte, Jg. 9, Nr. 12, S. 230.

Fried, Alfred Hermann (1907b): La problemo de l’ malarmo (= Libraro pacifisma 11), Paris: Societo „Pacifisto“.

Fried, Alfred Hermann (1913): Handbuch der Friedensbewegung. Zweiter Teil. Geschichte, Umfang und Organisation der Friedensbewegung, Berlin/Leipzig: Verlag der „Friedens-Warte“.

Holl, Karl (1988): Pazifismus in Deutschland, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Mauermann, Helmut (1990): Das Internationale Friedensbüro. 1892 bis 1950 (= Silberburg Wissenschaft 284), Stuttgart: Silberburg.

Moch, Gaston (1905): Ĝeneralaj observoj pri la regularo, in: Espero Pacifista, Jg. 1, Nr. 1, S. 25-28.

Moch, Gaston (1906): Jarlibro de „Pacifisto“. Unua Jaro. – 30an de Junio 1906 (= Libraro Pacifisma 4), Paris: Societo „Pacifisto“, S. 45-53.

Moch, Gaston (1907): La Societo, in: Espero Pacifista, Jg. 3, Nr. 12, S. 256.

O. A. (1905): Regularo de la Internacia Societo Esperantista por la Paco, in: Espero Pacifista, Jg. 1, Nr. 1, S. 21-25.

O. A. (1908): Esperanto en la pacifisma gazetaro, in: Espero Pacifista, Jg. 4, Nr. 11-12, S. 176.

Okrent, Arika (2009): In the land of invented languages. Esperanto rock stars, Klingon poets, Loglan lovers, and the mad dreamers who tried to build a perfect language. New York: Spiegel & Grau.

Riesenberger, Dieter (1985): Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Scheer, Friedrich Karl (1983): Die Deutsche Friedensgesellschaft (1892-1933). Organisation, Ideologie, politische Ziele. Ein Beitrag zur Geschichte des Pazifismus in Deutschland, Frankfurt am Main: Haag und Herchen.

 

 

[1] Nationale Friedensgesellschaften entstanden in England durch William Randal Cremer, als International Arbitration League (1870), sowie durch Hodgson Pratt, als International Arbitration and Peace Association (1880), in den Niederlanden als Allgemeene Nederlandsche Vredebond (1871), in den Vereinigten Staaten als National Arbitration League (1882), in Dänemark als Dansk Fredsforening (1882), in Schweden als Svenska Freds- och Skiljedomsföreningen (1883), in Frankreich als Association de la Paix par le Droit (1887), in Italien als Associazione per l´Arbitrato e per la Pace Internazionale (1887), in Belgien als Société Belge de l´ Arbitrage et de la Paix (1889), in der Schweiz als Société Suisse de la Paix (1889). Vgl. Cooper, Sandi E. (1991): Patriotic Pacifism. Waging war on war in Europe, 1815-1914, New York: Oxford University Press, 213ff. Fried, Alfred Hermann (1913): Handbuch der Friedensbewegung. Zweiter Teil. Geschichte, Umfang und Organisation der Friedensbewegung, Berlin/Leipzig: Verlag der „Friedens-Warte“, 288-301. Holl, Karl (1988): Pazifismus in Deutschland, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 13f. bzw. 42.

[2] Originaltext: „La Societo Esperantista por la Paco havas la esencan celon propagandi ne Esperanton, sed la pacifisman ideon.“

[3] Originaltext: „Oni do nur malsimpligus la taskon, se oni volus prezenti al la publiko duoblan ‚utopion‘, kiam estas ja tiel malfacile akceptigi al ĝi unu simplan. Estas do grave ne nur distingi zorge ambaŭ movadojn, sed ankaŭ eviti ĉion, kio povus starigi konfuzon inter ili.“

[4] Unter den 14 publizierten Bänden der Reihe befinden sich die Übersetzungen von Arbeiten mehrerer Friedensnobelpreisträger, u. a. Dunant, Henri (1906): Rememoro pri Solferino(= Libraro pacifisma 2), Paris: Societo „Pacifisto“.Ducommun, Élie (1906): La fundamentoj de l’ pacifismo (= Libraro pacifisma 3), Paris: Societo „Pacifisto“.Fried, Alfred Hermann (1907): La problemo de l’ malarmo (= Libraro pacifisma 11), Paris: Societo „Pacifisto“.

 

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