Moritz von Dietrichstein und die Musikschätze Kaiser Karls VI. auf ihrem Weg ins Internet

Forschung

13.11.2023
Musik
Zeichnung von prunkvoller Stiege mit Säulen, Statuen und Flaggen.

Hofbibliothekspräfekt Moritz von Dietrichstein spielte eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung und Erschließung der kostbaren Musikaliensammlung Kaiser Karl VI.

Autor: Marko Deisinger

Im Zuge eines derzeit laufenden Digitalisierungsprojekts wurde im Forschungsblog der Österreichischen Nationalbibliothek bereits mehrmals auf Umfang, Inhalt und Bedeutung der Musiksammlung Kaiser Karls VI. (1685–1740) hingewiesen (siehe die Beiträge von Thomas Leibnitz, Marc Strümper und Benedikt Lodes). Wie diese in die Bestände der Österreichischen  Nationalbibliothek gelangte, soll im Folgenden dargestellt werden.

Ins Hofmusikarchiv

Dass die Sammlung nach dem Tod Karls VI. in den Privatbesitz seiner Nachkommen überging, legt ein Katalog nahe, der sämtliche Bände der Sammlung umfasst und folgenden Titel trägt: „Catalogo delle Opere, Serenade, Cantate, ed Oratori le quali Sua Imperiale Reale Maesta L’Imperadore Giuseppe II si compiaqué di trasmetter nell’Archivio Musicale, dell’Imp: Reale Capella, l’Anno MDCCLXXVIII“. Demnach ließ Joseph II. 1778 die Musikbibliothek seines Großvaters ins Archiv der Hofmusikkapelle überstellen, obwohl der Zustand dieses Archivs laut dem englischen Musikhistoriker Charles Burney alles andere als gut war. Burney berichtet, dass er das Hofmusikarchiv im September 1772 besuchte und die darin verwahrten Musikalien „in der möglichsten Unordnung vermischt auf einander gethürmt liegen“ sah.1

Der Zustand des Archivs schien sich im Laufe der Jahre nicht zu bessern. Im Gegenteil: Als Moritz von Dietrichstein 1819 das Amt des Hofmusikgrafen übernahm, zu dessen Wirkungsbereich auch die Verwaltung des Hofmusikarchivs gehörte, fand er dieses in „gänzlicher Verwahrlosung“ vor: „Ein großer Theil der Hauptschätze dieses Archivs war in einem Mauerloche zwischen zwei Oratorien verborgen, in dem es seit mehr als 30 Jahren lag. […] Die Kataloge sowohl der alten, als neuen Kirchen- und sonstiger Musik waren sehr mangelhaft, undeutlich, und zeigten, wie gering man die musikalischen Schätze beachtete, die von mehreren, der Tonkunst besonders ergebenen deutschen Kaisern, hinterlassen wurden.“ Zudem berichtet Dietrichstein, dass Hofkapellmeister Antonio Salieri zufolge zur Zeit Josephs II. als unnütz erachtetes Archivmaterial an den Kunstfeuerwerker im Prater abgeliefert wurde.

Abb. 1 ÖNB, Mus.Hs.2454, Titelblatt
Abb. 2 ÖNB, PORT_00114353_01, Moritz von Dietrichstein

In die Hofbibliothek

Dietrichstein kümmerte sich alsbald um eine bessere Unterkunft für das Archiv. Es wurde zunächst in die Reichskanzlei überführt und 1824 in zwei Zimmern neben der Direktionskanzlei des Hofburgtheaters untergebracht. Hier gab Dietrichstein „demselben eine neue Form und Eintheilung.“ Das Archivgut wurde in Verzeichnissen und Katalogen erfasst und „Alles überhaupt in den besten Zustand versetzt.“ Bei all diesen Maßnahmen schwebte Dietrichstein als Ideal vor, „diese reichen, seltenen Vorräthe […] für talentvolle angehende Tonsetzer nützlich, und für Gelehrte im musikalischen Fache zugänglich zu machen.“ Da der Zugang zum Hofmusikarchiv der Allgemeinheit verwehrt war, blieb diese Absicht vorerst unerfüllt.

Dies änderte sich 1826, als Dietrichstein zum Präfekten der öffentlich zugänglichen Hofbibliothek (heute Österreichische Nationalbibliothek) ernannt wurde. In den ersten drei Jahren seiner Amtszeit sorgte er für die Überführung älterer Bestände des Hofmusikarchivs in die Hofbibliothek, wo sie mit den bereits vorhandenen musikbezogenen Werken vereint und vom Skriptor Anton Schmid katalogisiert wurden. Dietrichstein war überzeugt, dass durch die Überführung die „Hofbibliothek aber nicht blos bereichert“ werde, „um mit den erhaltenen musikalischen Schätzen zu prunken, sondern um entfernte dunkle Erinnerungen neu in’s Leben zu rufen; das Andenken großer Männer zu ehren, und sie der Vergessenheit zu entreißen; ihre Lehren durch die Einsicht ihrer Meisterwerke zu verbreiten; junge Talente zu wecken; geübten die wahre Richtung zu geben; endlich, und vorzüglich, um zu zeigen, wie manche glorwürdige Beherrscher Oesterreichs die Musik selbst mit Erfolg pflegten.“ Die Schätze dürften „nicht als ein todtes, sondern als ein für den Geist und die Beförderung der Tonkunst fruchtbringendes Kapital betrachtet werden.“2

Dietrichsteins Bemühungen um die Verwirklichung seiner Ziele stehen im Kontext von Bestrebungen einer patriotisch und konservativ ausgerichteten Kunstbewegung, die vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege entstanden war und sich stark von den Ideen des vom österreichischen Staatsmann Johann Philipp von Stadion geprägten Gesamtstaatspatriotismus leiten ließ. Zu ihren Anhängern gehörte neben dem musikaffinen und selbst komponierenden Dietrichstein dessen langjähriger Freund, der Komponist und Musikschriftsteller Ignaz von Mosel, der ab 1829 als 1. Kustos an der Hofbibliothek wirkte und maßgebend am Aufbau der dortigen Musiksammlung beteiligt war. Beide orteten einen Verfall der Musik und erachteten es als vaterländische Pflicht, den großen Komponisten aus der eigenen Vergangenheit nachzueifern.3 Zu den mustergültigen Werken zählten sie offenbar nicht zuletzt die Kompositionen aus der Musikbibliothek Karls VI., eigneten sich diese doch besonders gut für die ideologischen Zwecke der Bewegung.

Die von Dietrichstein veranlasste Überführung erfolgte in zwei Schritten: 1826 wurden der Hofbibliothek 47 Folianten mit Kirchenmusik aus der frühen Neuzeit sowie eine großformatige Prunkpartitur zum Opern-Pasticcio „Giunio Bruto“ mit Musik von Carlo Francesco Cesarini, Antonio Caldara und Alessandro Scarlatti und kolorierten Bühnenbilddarstellungen von Filippo Juvarra einverleibt.4 Bei der Partitur handelt es sich vermutlich um ein Objekt aus dem ehemaligen Besitz Karls VI. 1829 folgte der Rest der älteren Hofmusikarchivbestände inklusive der Musikalien der Biblioteca Carolina.5

Dietrichstein ließ die zusammengetragenen Musikalien in 16 von insgesamt 64 im Prunksaal der Hofbibliothek neu aufgestellten Kästen unterbringen und mit Standortsignaturen versehen. Das Material wurde nach Gattungen geordnet.6 So befand sich Antonio Caldaras Oper „Nitocri“ unter der Signatur A.N.51.D.1 (Armarium Novum 51, Regal D, Platznummer 1) im Kasten der „Älteren italienischen Opern“ und sein Oratorium „Il Batista“ unter der Signatur A.N.50.B.23 im Kasten der „Oratorien“.7

Ins Internet

Im Zuge der Neukatalogisierung der allgemeinen Handschriften wurden im späten 19. Jahrhundert die Musikhandschriften umsigniert und erhielten den Signaturen-Bereich „Codices 15501–*19500“.8  Diese Nummern haben bis heute Gültigkeit. Allerdings wurde später das vorangestellte Kürzel „Cod.“ durch das Kürzel für Musikhandschriften „Mus.Hs.“ ersetzt. Ein weiterer wichtiger Schritt in der Erschließung und archivalischen Sicherung der heute wieder vereint aufgestellten Musikschätze Karls VI. inklusive der Oper „Giunio Bruto“ ist ihre von den Österreichischen Lotterien dankenswerterweise finanzierte Digitalisierung, in deren Rahmen sie im Internet frei zugänglich gemacht werden (Biblioteca Carolina Digital).

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Abb. 3 ÖNB, Mus.Hs.16692, „Giunio Bruto“, Titelblatt
Abb. 4 ÖNB, Mus.Hs.16692, „Giunio Bruto“, Beginn der Oper

Über den Autor: Dr. Marko Deisinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.

Fußnoten

1 Carl Burney’s der Musik Doctors Tagebuch seiner Musikalischen Reisen. Zweyter Band. Durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien. Aus dem Englischen übersetzt. Hamburg 1773, S. 250.

2 Österreichisches Staatsarchiv, Akten des Obersthofmeisteramtes 355, 74 Angelegenheiten der Hofbibliothek (1829), Bericht und Gesuch Moritz von Dietrichsteins an das Obersthofmeisteramt, 3.3.1829. Konzept dazu in ÖNB-Archiv, HB 28/1829.

3 Vgl. Theophil Antonicek, „‚Vergangenheit muß unsre Zukunft bilden‘: Die patriotische Musikbewegung in Wien und ihr Vorkämpfer Ignaz von Mosel.“ Revue belge de Musicologie/Belgisch Tijdschrift voor Muziekwetenschap 26/27 (1972/73), S. 38–49.

ÖNB-Archiv, HB 22/1826 und HB 23/1826 Ansuchen (11.6.1826) und Bewilligung der Überführung (14.6.1826). Zur Oper siehe Giacomo Sciommeri, „Un’opera ‘a sei mani’ per Giuseppe I d’Austria: il ‘Giunio Bruto’ di Cesarini, Caldara e Scarlatti (1711)”, in: Antonio Caldara nel suo tempo, hrsg. von Milada Jonášová und Tomislav Volek. Praga 2017, S. 177–210.

ÖNB-Archiv, HB 30/1829 Genehmigung der Überführung, 9.3.1829.

Vgl. Ignaz von Mosel, Geschichte der kaiserl. königl. Hofbibliothek zu Wien. Wien 1835, S. 260f, 268, 271, 281, 354f. 

7 ÖNB, Mus.Hs.2462/14+15 Standortsverzeichnisse der Musikalien der K. K. Hofbibliothek Wien, Armarium Novum L+LI.

8 Tabulae codicum manu scriptorum praeter graecos et orientales in Bibliotheca Palatina Vindobonensi asservatorum, vol. IX-X. Wien 1897-1899.

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